«Der existenzielle Ernst der Weltlage»

Die Festrede von Rektor Ernst Staehelin zur Fünfhundertjahrfeier der Universität Basel am 1. Juli 1960 im Münster.

21 Jahre sind vergangen seit sich die «Hochansehnliche Festversammlung» zum letzten Mal in einem ähnlichen Rahmen getroffen hat. Hinter den Menschen, die sich an diesem Tag im Juli 1960 im Münster versammeln, liegt ein Weltkrieg. Vor ihnen ein Kalter. Ein Jahr später wird Deutschland durch eine Mauer getrennt sein, zwei Jahre später werden sowjetische Bomben auf Kuba die Welt an den Rand eines atomaren Krieges bringen.
Dass diese äusseren Einflüsse auch am Tag der Fünfhundertjahrfeier der Universität Basel nicht vergessen gingen, dafür sorgte der gleiche Mann wie vor 21 Jahren. Nach der feierlichen Eröffnung des neuen Kollegiengebäudes im Jahr 1939 ist es wieder und immer noch Ernst Staehelin, der der Universität als Rektor vorsteht und damit die Festrede zu halten hat. Eine Festrede, die Staatsarchivar Paul Roth später in seinem Festbericht als die «Krönung» der erhabenen Gedenkfeier bezeichnen wird. Auch für Roth war die Aufgabe im Übrigen nicht neu - er war schon 1939 bei der Eröffnung des Kollegiengebäudes für den Festbericht zuständig.
Dass der Rektor 1960 immer noch Ernst Staehelin heisst, ist für die Bearbeitung der Jubelreden von grossem Wert. Mit seiner Rede im Jahr 1939 markierte er einen Bruch von den zwischen 1660 und 1910 üblicherweise gehaltenen «Erinnerungsreden», in denen die jeweiligen Rektoren den Blick beinahe ausschliesslich zurück auf die Geschichte der Universität warfen und die Gelegenheit nicht nutzten, ihr ganz eigenes Bild der Universität zu entwerfen und damit nach vorne zu schauen.
1939 kehrte Staehelin dieses Verhältnis um und verwandte viel Zeit seiner Rede auf die «Leitidee» der Universität. Diese Idee dachte er 21 Jahre später konsequent weiter. Dabei diente ihm die Rede von 1939 in vielerlei Hinsicht als Fundament - einzelne Bausteine und Ideen der Rede zur Eröffnung des Kollegiengebäudes sind 1960 im Münster erneut zu hören.

Die Ursprünge
Eine Konzession an die Reden seiner Vorgänger machte er allerdings dabei: Im Gegensatz zur Feier von 1939, an der er auf einen historischen Überblick weitgehend verzichtete, kündete der Rektor 1960 bereits in seinen einleitenden Worten an, dieses Mal auch die Geschichte der Uni zu beleuchten: «Wenn in dieser feierlichen Stunde dem Rektor der Universität die ehrenvolle Aufgabe zufällt, die eigentliche Festrede zu halten, so dürften von ihm vor allem zwei Dinge erwartet werden, erstens, dass er den Blick in die Vergangenheit wende und Derer gedenke, die die Universität gegründet und während eines halben Jahrtausends weitergeführt und durchgetragen haben, zweitens aber, dass er zu einer Besinnung auf den Zweck und die Aufgaben aufrufe, denen sich die Universität in der Gegenwart und in der Zukunft verpflichten und hingeben sollte.» Der Rektor orientiert sich bei seiner Schilderung der Geschichte der Universität an den grossen Brüchen der Schule . Nach der detaillierten Nacherzählung der Gründung der Universität durch den früheren Sekretär des Konzil in Basel, Enea Silvio Piccolomini und späteren Papst Pius II. widmet er sich ausgiebig der ersten Krise der Uni. Der Reformation. Bis dahin hat die Uni laut Staehelin das «Gepräge eines vom Frühhumanismus beeinflussten Katholizismus».
Auch nach der Reformation habe sich die Universität weiter dem Humanismus verschrieben. Vor allem Reformator Johannes Ökolampad habe darauf hingearbeitet, dass die Uni am 12. September 1532 im «Geiste eines christlich-reformierten Humanismus» neu gegründet wurde. Diesem Geist sei die Schule bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert treu geblieben, als «grosse politische Umwälzungen, eine antiquierte Organisation und ein gewisses wissenschaftliches Erstarrtsein» die Universität in eine «Krisis auf Leben und Tod» geführt habe. Aus dieser Krise ging die Universität mit einem neuen Gesetz (1818) und einem neuen Gepräge hervor: Dem «neuhumanistischen Liberalismus», dem die Universität bis heute, bis zur Fünfhundertjahrfeier, treu geblieben sei.
Mit einer Ehrbezeugung an die Toten in Versform endet Staehlins retrospektiver Teil der Rede. Nun will er sich mit der Gegenwart und Zukunft beschäftigen: «Doch diese Stunde des Gedenken und die ganze Fünfhundertjahrfeier überhaupt laden uns nicht nur zu einer Rückschau in die Vergangenheit ein, sondern sie rufen uns zugleich mit grösstem Nachdruck zu einer Besinnung auf die Gegenwart und Zukunft auf.»

Das Leitmotiv
Wie sich der Rektor auf die Gegenwart und Zukunft besinnen möchte, hat er bereits bei seinem Blick in die Vergangenheit angedeutet. Der Humanismus, in dessen Geist an der Universität Basel durch die Jahrhunderte gelehrt und geforscht wurde, ist sein grosses Thema, ist sein Leitmotiv.
Zuerst macht Staehelin seinen Zuhörern allerdings bewusst, dass die Universität, egal wie klein sie im Vergleich mit anderen Hohen Schulen auch sein möge, nicht abseits des Weltgeschehens stehe, sondern dafür mitverantwortlich sei. «Aber wie jeder einzelne Mensch, der sein Menschsein ernst nimmt, für das Ganze der Menschheit verantwortlich ist, so kann auch eine aus Menschen bestehende Körperschaft, selbst wenn sie noch so gering erscheint, sich nicht dem Bewusstsein entziehen, ihre Wirksamkeit in den Gesamtzusammenhang des menschlichen Lebens hineinstellen zu sollen.»
Auf diesen Gesamtzusammenhang geht Staehlin nun weiter ein. Der Rektor zeichnet ein düsteres Bild. Die «ungeheure Vermehrung der Menschheit», der Eintritt neuer «zum Teil gewaltiger Völker in die Arena der weltgeschichtlichen Auseinandersetzung» und die «unheimlichen technischen Möglichkeiten» der Zeit stellen für den Rektor die früheren Umbrüche der Weltgeschichte in den zweiten oder dritten Rang zurück. Deutlicher noch als im Jahr 1939, als die Welt vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs stand, geht der Rektor im Jahr 1960 auf die äusseren Bedrohungen der Welt ein, nennt die Gefahr beim Namen und präsentiert sein Gegenrezept.
Die Uni müsse sich in diesem Kontext fragen, ob sie gegenüber dem «existenziellen Ernst der Weltlage» noch genügend Tiefgang, genügend geistigen Hintergrund besitze. Wie schon vor 21 Jahren warnt Staehlin vor einer allzu positivistischen Auslegung des Auftrags der Universität. Vielmehr müsse die Universität angesichts der Weltlage ihr «ganzes Wesen und Wollen wieder in letzte metaphysische Zusammenhänge» stellen. Dabei steht für ihn der im Universitätsgesetz von 1937 formulierte Satz: «Die wissenschaftliche Lehre und Forschung ist frei» über allem. Allerdings sei die Freiheit der Lehre und der Forschung kein Freibrief für ein unbesonnenes und verantwortungsloses Schalten und Walten mit der Wissenschaft. Es sei die Pflicht jedes Einzelnen, nach den letzten Massstäben zu ringen, mit denen das «gewaltige Instrument der Wissenschaft» gehandhabt werden soll. Das Werk der Wissenschaft trage nicht nur Segen, sondern auch Fluch in sich - das bedürfe im Zeitalter der atomaren Entdeckungen und Erfindungen keine weiteren Erläuterungen.

«Ungeheure Perspektiven»
Eindringlicher als noch vor 21 Jahren geht Stahelin auf den Philosophen Karl Steffensen und seine Losung «Wir sind Gespenster» ein. Man müsse sich gerade in den Tagen dieses Jubiläums bewusst sein, «dass die Weltgeschichte darum so wahnsinnig ist, weil sie von gespenstigen Menschen gemacht wird». Was ist also zu tun?
Staehelin hält es mit Georg von Andlau, der bereits in der Proklamation zur Eröffnung der Universität, mit seiner Anrufung des eingeborenen Sohn Gottes und dessen Gnadengeschenk, dass die höchste Wahrheit immer unerschütterlich bleibe, die Schule «mit all ihrem wissenschaftlichen Ringen, Wollen und Schaffen aus dem Bereich dieser gebrochenen Welt» gehoben habe. Genau darum gehe es, darum, den Fakultäten und Disziplinen einen letzten, tiefen Sinn und eine heilige Ausrichtung zu geben.
Mit seiner Proklamation habe von Andlau die Universität an den Anfang einer grossen kosmischen Freiheitsbewegung gestellt, sagt Staehelin. Der «Messias» von Georg Friedrich Händel, den die Festgemeinde vor der Jubelrede hören durfte, richte die Universität nun auf den «grossen Endsieg» dieser Bewegung vor. Mit dem «Messias» werde der endgültige Triumph Gottes über alles Stückwerk verkündet und es sei ein grosses Geschenk, wenn die Universität Basel an ihrer Fünfhundertjahrfeier in diese «ungeheuren Perspektiven» gehoben werde.
Mit diesen Perspektiven erhalte jene Humanität, die so oft im Zusammenhang mit der Universität genannt werde, eine «klare und über alle Massen wertvolle Füllung». Mehr als das: Die Probleme mit der akademischen Jugend, die «bereits bestehen und in noch grösserer Menge und Schwere künftig aufbrechen werden», würden so weise gemeistert und es dürfte wohl so sein, «dass die Universität den grossen revolutionären Losungen gegenüber, die gegenwärtig die Weltgeschichte in Aufruhr versetzen, eine Losung hat, die allen diesen säkularen Losungen weit überlegen ist.»
Das sei die Leitidee, die er der Universität in ihr sechstes Jahrhundert mitgeben wolle. Dass sie nicht nur ein «Studium generale» betreiben solle, sondern vielmehr «eine Zelle in der grossen Erlösungsbewegung» sein möge, «die dem unermesslichen Seufzen der Kreatur ein Ende bereiten und in allen Bereichen des Weltalls die Herrlichkeit einer von allem Stückwerk und allen Mächten des Wahns und des Leidens befreiten Gotteswelt aufrichten möchte.»